Das Geschenk der Weisen (O. Henry)
Foto: © Silvia Abderhalden
Ein Dollar und siebenundachtzig Cent. Das war alles. Und sechzig Cent davon bestanden aus Penny-Stücken. Pennies, die sie durch zähes Feilschen dem Krämer, dem Fleischer und dem Gemüsehändler nach und nach abgehandelt hatte bis es ihr die Schamröte ins Gesicht trieb, denn sie bemerkte sehr wohl, dass man ihr diese Pfennigfuchserei insgeheim als kleinlichen Geiz anlastete. Dreimal zählte Della nach. Ein Dollar und siebenundachtzig Cent. Und morgen war Weihnachten.
Da blieb nun wirklich nichts anderes übrig, als sich auf das schäbige alte Sofa zu werfen und zu heulen. Was Della denn auch tat. Und was uns zu der hochphilosophischen Überlegung führt, dass das Leben aus Schluchzen, Seufzen und Lächeln besteht, wobei die Seufzer wohl in der Überzahl sind.
Della hörte zu weinen auf und retuschierte die Tränenspuren in ihrem Gesicht mit der Puderquaste. Sie stand am Fenster und sah betrübt einer grauen Katze zu, die in einem grauen Hinterhof einen grauen Zaun entlangschlich. Morgen war Weihnachten, und sie hatte nur einen Dollar und siebenundachtzig Cent, um Jim ein Geschenk zu kaufen. Seit Monaten hatte sie nach Kräften jeden Penny gespart - und das war alles, was dabei herausgekommen war. Mit zwanzig Dollar in der Woche kommt man nicht sehr weit. Sie hatte mehr Ausgaben gehabt als geplant. Das ist ja immer so. Nur ein Dollar und siebenundachtzig Cent, um Jim ein Geschenk zu kaufen. Ihrem über alles geliebten Jim. Viele glückliche Stunden hatte sie damit verbracht, sich etwas Hübsches für ihn auszudenken. Etwas wirklich Feines, Seltenes, Kostbares, etwas, das, wenn auch halbwegs, der Ehre würdig sei, ihrem Jim zu gehören.
Zwischen den Fenstern des Zimmers hing ein schmaler, langer Pfeilerspiegel. Vielleicht haben Sie eine solche Art von Spiegel in einer Acht-Dollar-Wohnung gesehen. Nur eine sehr schlanke und bewegliche Person kann, so sie ihr Spiegelbild in einer raschen Folge von Längsstreifen zu betrachten in der Lage ist, ein einigermassen zuverlässiges Bild ihrer äusseren Erscheinung gewinnen. Da Della schlank war, beherrschte sie diese Kunst. Plötzlich wirbelte sie herum und stellte sich vor den Spiegel. Ihre Augen blitzten aufgeregt, doch ihr Gesicht hatte in weniger als zwanzig Sekunden alle Farbe verloren. Rasch löste sie ihr Haar und liess es in seiner vollen Länge herabfallen.
Nun gab es zwei Dinge im Besitz von Mr. und Mrs. James Dillingham Young, auf die sie beide mächtig stolz waren. Eines davon war Jims Uhr, die zuvor schon seinem Vater und seinem Grossvater gehört hatte. Das andere war Dellas Haar. Hätte in der Wohnung jenseits des Lichtschachts die Königin von Saba gewohnt, so hätte Della vielleicht eines Tages ihr Haar zum Trocknen aus dem Fenster gehängt, und alle Juwelen und sonstige Schätze Ihrer Majestät wären zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Und wäre König Salomo Portier im Haus der Dillinghams gewesen und hätte all seine Reichtümer im Keller gestapelt, so hätte Jim jedes Mal im Vorbeigehen seine Uhr gezückt, und der König hätte sich vor Neid den Bart gerauft. So fiel nun Dellas schönes Haar wie ein brauner Wasserfall glänzend und sanft sich kräuselnd an ihr herab. Es reichte ihr bis unter die Knie und umhüllte sie fast wie ein Gewand. In nervöser Hast steckte sie es wieder auf. Einen Augenblick lang schwankte sie noch in ihrem Entschluss, während eine Träne oder möglicherweise auch zwei auf den abgetretenen roten Teppich tropften.
Schnell zog sie ihre alte braune Jacke an, schnell setzte sie ihren alten braunen Hut auf. Mit wehenden Röcken und immer noch diesem Leuchten in den Augen huschte sie aufgeregt durch die Tür, die Treppe hinunter, auf die Strasse. Sie blieb erst stehen, als sie ein Schild erreicht hatte, auf dem zu lesen war: «Mme. Sofronie, Haarteile aller Art». Della rannte die Treppe hinauf und rang, oben angekommen, nach Luft und Fassung. Die Gnädige Frau war wohl genährt, bleichgesichtig und eiskalt. Sie sah kaum so aus, als könne sie «Sofronie» heissen. «Wollen Sie meine Haare kaufen?» fragte Della. «Ich kaufe Haar», antwortete Madame. «Dann nehmen Sie mal ihren Hut ab und lassen Sie sehen.» Herunter strömte der braune Wasserfall. «Zwanzig Dollar» bot Madame und griff mit geübten Händen in die Haarflut. «Schnell, geben Sie mir das Geld.» Die nächsten zwei Stunden eilten dahin wie auf Flügeln. Della eilte durch die Geschäfte auf der Suche nach Jims Geschenk. Sie fand es schliesslich. Es war nur für Jim gemacht und für niemand anders, das stand fest. In keinem der anderen Geschäfte hatte sie auch nur eines gefunden, das diesem hier auch nur annähernd gleichkam. Und sie hatte sie wirklich alle auf den Kopf gestellt. Es war eine schlichte, edle und in der Form vollendete Uhrkette, deren Wert sich allein in ihrem Material offenbarte und nicht in auffälligen Verzierungen. Sie war gerade so, wie alle wirklich guten Dinge sein sollten. Sie war sogar der Uhr aller Uhren würdig. Kaum dass Della sie gesehen hatte, wusste sie, dass sie Jim gehören musste. Sie war wie er, dezent, vornehm und wertvoll. Einundzwanzig Dollar nahm man ihr ab, und sie eilte mit den siebenundachtzig Cent nach Hause. Mit dieser Kette an seiner Uhr konnte Jim in jeder Gesellschaft stilvoll nach der Zeit sehen. Denn wenn die Uhr auch ein Prachtstück war, so schaute er sie oft nur verstohlen an, denn sie war an einem Lederriemen statt an einer Uhrenkette festgemacht. Als Della zu Hause ankam, dämpften Vernunft und ruhige Überlegung ein wenig ihren Taumel. Sie holte ihre Brennschere hervor, zündete das Gas an und machte sich daran, die verheerenden Folgen zu beheben, die ihre Liebe zu Jim bewirkt hatten. Und das, liebe Leserinnen und Leser, ist stets eine ungeheure Aufgabe, ein wahres Mammutprogramm.
Vierzig Minuten später war ihr Kopf mit winzigen, enganliegenden Löckchen bedeckt, mit denen sie aussah wie ein bezaubernder Lausbub, der gerade Schule schwänzt. Sie besah sich lange, sorgfältig und kritisch im Spiegel. «Wenn Jim mich nicht umbringt», sagte sie sich, «wird er behaupten, dass ich wie ein Revuegirl von Coney Island aussehe, wenn er mich überhaupt noch eines zweiten Blickes würdigt. Aber was bitte, hätte ich tun können? Was hätte ich mit einem Dollar und siebenundachtzig Cent anfangen sollen?»
Um sieben Uhr war der Kaffee fertig und auf dem Ofen stand die Pfanne bereit, in denen die Steaks gebraten werden sollten. Jim kam nie zu spät. Della rollte die Uhrkette in ihrer Hand zusammen und setzte sich auf die Tischkante gegenüber von der Tür, durch die er hereinkam.
Als sie seine Schritte unten im Stock hörte, wurde sie einen Augenblick lang bleich. Sie hatte die Angewohnheit, kleine Stossgebete gen Himmel zu richten, auch wenn es nur um Alltagsdinge ging. So flüsterte sie auch jetzt: «Bitte, lieber Gott, mach, dass er mich immer noch hübsch findet.»
Die Tür ging auf, Jim trat ein und machte sie hinter sich zu. Er sah schmal und sehr ernst aus. Armer Kerl! Er brauchte dringend einen neuen Mantel, und Handschuhe hatte er auch keine. Jim blieb an der Tür stehen, bewegungslos, er fixierte Della, und in seinen Augen war etwas, das sie nicht zu deuten vermochte, dass sie aber erschreckte. Es war weder Zorn noch Überraschung, weder Missbilligung noch Entsetzen, und es war auch keines der Gefühle, auf die sie gefasst war. Er starrte sie mit diesem seltsamen Ausdruck im Gesicht ganz einfach nur an. Della rutschte vom Tisch herunter und lief auf ihn zu. «Bitte, lieber Jim, sieh mich nicht so an. Ich habe mein Haar abgeschnitten und verkauft, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, kein Weihnachtsgeschenk für dich zu haben. Es wachst bald wieder nach, du bist mir doch deswegen nicht böse, oder? Ich musste es einfach tun. Mein Haar wächst furchtbar schnell. Wünschen wir uns Fröhliche Weihnachten, Jim, und lass uns ganz einfach glücklich sein! Du weisst ja gar nicht, was für ein Schönes, ja, was für ein wunder-, wunderschönes Geschenk ich für dich habe.» «Du hast dein Haar abgeschnitten?» stiess Jim schliesslich mühsam hervor, so als sei ihm die Tatsache auch nach grösster gedanklicher Anstrengung noch nicht zu Bewusstsein gelangt und als wolle er sie erst nach reiflicher Überlegung anerkennen. «Abgeschnitten und verkauft», antwortete Della. «Magst du mich nicht trotzdem genauso gern? Ich bin auch ohne Haar immer noch dieselbe, oder?» Jim sah sich forschend im Zimmer um. «Du sagst, dein Haar sei fort?» fragte er, was ein wenig einfältig klang. «Du brauchst gar nicht danach zu suchen», erwiderte Della. «Ich sage dir ja, ich habe es verkauft. Es mag ja sein, dass die Haare auf meinem Kopf gezählt waren», fuhr sie mit hinreissender, plötzlicher Ernsthaftigkeit fort, «aber niemand könnte jemals meine Liebe zu dir zählen. Soll ich jetzt die Koteletts braten, Jim?» Jetzt endlich schien Jim aus seinem Trancezustand zu erwachen. Er schloss Della in die Arme und zog ein Päckchen aus seiner Manteltasche und warf es auf den Tisch. «Täusche dich nicht in mir, Della», sagte er. «Ich glaube kaum, dass ein Haarschnitt oder eine Kopfwäsche oder irgendetwas in dieser Richtung mich dazu bringen können, mein Mädchen weniger zu lieben. Aber wenn du dieses Paket aufmachst, wirst du sehen, warum ich vorhin Probleme hatte, die Fassung zu bewahren.»
Behände weisse Finger zogen an Schnur und Papier. Dann ein entzückter Freudenschrei, dem in echt weiblicher Manier übergangslos Tränen und Wehklagen folgten. Diese wiederum stellten den Herrn des Hauses augenblicklich vor die Notwendigkeit, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften Trost zu spenden. Denn dort lagen die schönsten aller Kämme, eine ganze Garnitur davon, seitlich und hinten einzustecken. Della hatte sie schon seit langem in einem Schaufenster am Broadway bewundert. Es waren herrliche, mit Edelsteinen und Perlen verzierte Kämme aus echtem Schildplatt, die von genau der Farbe waren, die zu ihrem verschwundenen Haar gepasst hätten. Es waren teure Kämme, das wusste sie, und ihr Herz hatte sie voller Sehnsucht begehrt, doch hatte sie nie auch nur im Entferntesten zu hoffen gewagt, sie jemals zu besitzen. Jetzt gehörten sie ihr, nur waren die Flechten nicht mehr da, die der ersehnte Schmuck zieren sollte. Doch sie drückte ihn ans Herz, und schliesslich konnte sie auch mit verweinten Augen und einem Lächeln aufblicken und versichern: «Meine Haare wachsen ja so schnell, Jim!» Da plötzlich sprang sie auf wie ein Kätzchen, das sich das Fell versengt hat und rief: «Oh, oh!» Jim hatte ja sein wunderschönes Geschenk noch nicht gesehen. Sie hielt es ihm eifrig auf der geöffneten Hand entgegen. Das kostbare, matt glänzende Metall schien plötzlich aufzuleuchten und ihr helles kristallklares Wesen widerzuspiegeln. «Ist sie nicht prächtig? Ich habe die ganze Stadt abgesucht, bis ich sie endlich gefunden hatte. Jetzt kannst du getrost hundertmal am Tag nach der Zeit sehen. Gib mir deine Uhr. Ich will doch mal sehen, wie sie dazu aussieht.» Aber Jim tat nicht, was sie sagte. Stattdessen liess er sich auf das Sofa fallen, faltete die Hände hinterm Kopf und lächelte. «Della», sagte er, «lass uns unsere Weihnachtsgeschenke wegpacken und eine Weile aufheben. Sie sind zu schön, als dass wir sie gleich jetzt benutzen sollten. Ich habe die Uhr verkauft, um das Geld für deine Kämme zu bekommen. Und jetzt, denke ich, wäre es an der Zeit, die Steaks aufs Feuer zu stellen.»
Die Heiligen Drei Könige waren, wie Sie wissen werden, weise Männer, – wunderbar weise Männer –, die dem Kind in der Krippe Geschenke brachten. Sie erfanden die Kunst des weihnachtlichen Schenkens. O. Henry hat diese ziemlich ereignislose Geschichte von zwei törichten Menschenkindern in einer möblierten Wohnung geschrieben, die so unklug waren, einander ihre grössten Schätze zu opfern. Doch in seinem Schlusswort lässt er uns darüber nachdenken, dass nämlich von allen, die schenken, diese beiden die Weisesten waren. Von allen, die schenken und beschenkt werden, sind Menschen wie sie am weisesten. Immer und überall. Sie sind die Könige.
Das Geschenk der Weisen (im Original «The Gift of the Magi», als dt. Ausgabe auch Die Gabe der Weisen) ist eine Kurzgeschichte des US-amerikanischen Schriftstellers O. Henry (William Sydney Porter, geb. 1862 in Greensboro, North Carolina, gest. 1910 in New York City), die erstmals am 10. Dezember 1905 in der Sonntagsbeilage im New York Sunday World Magazine, der damals grössten Zeitung der USA, unter dem Titel Gifts of the Magi erschienen ist. Die Geschichte, die im April 1906 unter dem heute gängigen Titel unverändert in O. Henrys Short-Story-Sammlung The Four Million aufgenommen wurde, zählt zu den erfolgreichsten Kurzgeschichten dieses Autors und wurde vielfach anthologisiert sowie in zahlreiche Sprachen übersetzt.